Sabine Peters: Narrengarten

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Sabine Peters

Narrengarten Roman

WALLSTEIN VERLAG



Leseprobe aus: Sabine Peters Narrengarten Roman ca. 240 S., geb., Schutzumschlag ca. ¤ 19,90 (D); ca. ¤ 20,50 (A) ISBN 978-3-8353-1345-3 Erscheint im August 2013

Die Autorin Sabine Peters, geb. 1961, studierte Literaturwissenschaft, ­Politikwissenschaft und Philosophie in Hamburg. Nach ­einigen Jahren im Rheiderland lebt sie seit 2004 wieder in Hamburg. Neben Romanen, Erzählungen und Hörspielen schreibt ­Sabine Peters auch Essays und Kritiken. Sie wurde ausgezeichnet u.a. mit dem Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, dem Clemens-Brentano-Preis, dem Evangelischen Buchpreis und dem Georg-K.-GlaserPreis.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf


Zur blauen Stunde Sie liegen auf dem Teppich, beide atemlos. Paul hat Sonja dazu gebracht, sich am Boden mit ihm zu wälzen, schreiend und lachend. Sonja fährt sich durch das feuchte Haar, reibt ihre Wade. Das gibt bestimmt wieder blaue Flecken, sagt sie. Er räkelt sich und sieht ihr zu, wie sie aufsteht, nach ihrer Brille auf dem Tisch greift. Möchten der Herr etwas trinken, fragt sie, wie immer? Paul, die Arme hinterm Kopf verschränkt, denkt nach und nickt. In der Küche setzt Sonja für sich Espresso auf und holt Pauls dickwandiges Lieblingsglas. Sie füllt es wunschgemäß, trägt die Getränke, Zucker und eine Dose mit Keksen ins Wohnzimmer an den großen Esstisch, verbeugt sich. Monsieur, le repas est prêt, s’il vous plaît. Er versteht zwar kein Wort Französisch, wohl aber den Sinn, und er mag Floskeln und Rituale. Doch jetzt ignoriert er sie, liegt weiter auf dem Teppich. Auch gut. Dann kann sie sich an ihre Sachen machen. Sie gießt Espresso ein, setzt sich und legt die Beine hoch. Sie blättert in einem Papierstapel. Darunter zwei hand­ geschriebene Briefe, die wirft sie weg. Der Kieler kann mir gestohlen bleiben, nach dem Treffen letzte Woche. Sein romantisches Getue war mir gleich verdächtig. Nicht vergessen, nachher auf dem PC seine ­E-Mails zu löschen. Was hab ich je an dem gefunden? Paul steht barfuß auf dem Teppich, ein Bein seitwärts ausgestreckt, die Arme ausgebreitet, ein Denkmal. Sein Finger lockt sie, aufzusehen und zu ihm zu kommen. Sonja sagt zu ihm, Fürst, amüsier dich. Ich will meine Sachen machen. Er zuckt die Schultern, kommt an den Tisch und greift nach seinem Glas, nimmt einen durstigen Schluck und sagt Ahh. Wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. 3


Wenn er jetzt rülpst, fliegt er raus. Der Wohnzimmertisch, zu massig für den Raum, ein ­altes Lieblingsstück, das Sonjas Großeltern gehörte. Der Tisch ist für sie das, was bei den Steinzeitmenschen Feuer in der heimatlichen Höhle war. Hier sitzen Angehörige und Freunde, schlagen sich die Bäuche voll, erzählen Heldengeschichten oder weinen sich aus, und manchmal schläft einer spät abends am Tisch einfach ein. Samstag heute, und die Tageszeit jetzt ist Sonja die liebste, sie heißt blaue Stunde. Wie dumm, letzte Woche um diese Zeit auf den Kieler gewartet zu haben. Die Pumps haben drei Stunden lang gedrückt. Was tu ich mir bloß alles an nur wegen einem Mann. Sie wackelt mit den Zehen in den dicken löchrigen Socken. Die sind handgestrickt von ihrer Tante, da lohnt sich das Stopfen. Sie öffnet den Knopf ihrer Hose. Pult etwas Dreck unter dem Daumennagel weg. Sie löffelt reichlich Zucker in die Tasse und schenkt sich nach. Wischt nachlässig Krümel zu Boden. Der Esstisch: Spuren des Kampfs zwischen Chaos und Ordnung. Über der ganzen Fläche liegt eine ehemals orange, mittlerweile beinahe weißgeschrubbte abwaschbare und doch immer klebrige Decke. Auf der einen Tischhälfte CDs, eine Kerze im silbernen Halter. Bücher, Zeitungen, Blöcke und Stifte. Auf der anderen Hälfte Teller mit Käseresten und Bananenschalen, die Keksdose, das Tablett mit den Getränken. Zerknüllte Servietten und ein hüllenloser, bis zum Anschlag aufgedrehter abgenutzter und verschmierter Lippenstift. Ein angebissenes Brötchen, eine Salbentube. Das ganze Zimmer sieht nicht sehr viel besser aus. Wann hört das auf. Bei anderen Frauen blitzt die Wohnung, selbst wenn sie Dackelwelpen großziehen. Als Lotte neulich hier war, hat ihr Gesicht Bände gesprochen, als wäre sie meine Mutter. Gesagt hat sie kein Wort, aber man ist nicht blöde. Ob ich mit über fünfzig auch so resigniert aussehen werde? Der Lippenstift sieht eklig aus. Das war mein süßes 4


Töchterchen. Moira hat erst einmal angerufen. Vielleicht ganz gut, wenn sie auf diesem Reiterhof kein Heimweh hat, wenn sie sich austobt. Seit sie in den Ferien ist, such ich ver­ geblich meine Schere. Die Streichhölzer sind auch wieder weg. Der letzte Lover hat sich meinen schönen roten Schirm unter den Nagel gerissen. Deswegen ruf ich ihn nicht nochmal an. Ich möchte wissen, was in dieser Wohnung mir allein gehört. Sonja sieht Paul an. Wenn er weniger krümelte, wenn sein Hemd nicht immer aus der Hose hinge und er sich die Hände gelegentlich wüsche, wäre er vorzeigbar. Wie lange man sich schon kennt, vergleichsweise. Er hat sich in ein Buch vertieft, isst Keks. Sie schreibt einen Geburtstagsbrief an ihre alte Tante. Schön altmodisch von Hand, das hat die Tante gern. Schmatz nicht so, sagt sie abwesend in Pauls Richtung. Er sieht sie an. Sie trägt das Armband, das er ihr geschenkt hat. Bohrt im Mund an ihrem Zahn, der wird ihr bald ge­ zogen. Paul sagt, der Keks schmeckt staubig. Aber ich habe ihn mit Mehl gebacken, sagt Sonja. Dann ist es gut, er nimmt sich noch einen und krümelt. Freundliche Stille im Zimmer. Blaue Stunde, das ist die Zeit des Ausatmens, auch Paul genießt das. Er ist mit seinem Getränk beschäftigt, oder mit nichts, er sieht zufrieden aus. Hört aber wieder nicht zu. Paul war in Gedanken beim neuen Auto. Jetzt sieht er sie zerstreut an. Was? Ob ich deinen Brief mit unterschreiben will? Er wählt unter den vielen Stiften auf dem Tisch einen blauen und kritzelt gefällig. Dann nimmt er sich einen der Blöcke, blättert in alten Zeichnungen. Hier ist ein Boot mit vielen Rudern, sagt er. Es fährt nach Afrika. Aber nicht, um Elefanten die Zähne zu ziehen. Er schlägt mehrere Seiten um, sieht ein Gewirr von gelben und grünen Ratschern an. Moira macht einen Ausflug mit der Schule, sagt er. Ihr 5


Zopf geht bis zur Erde. Was sie in der Hand hält, ist die Handtasche. Die ist so groß, damit sie Platz für alle ihre ­Pferde hat. Die Schüler haben an den Rändern Lehrerinnen. Sie passen auf, dass kein Mitschnacker kommt. Ich male jetzt ein neues Bild, sagt er, nimmt einen lila Stift. Sehr schön, sagt Sonja. Sie liest sich fest in dem Artikel über die Beschleunigung der Zeit. Tempo als Freiheitser­ fahrung, zwei bis drei Leben in einem. Gesteigerte Erlebniszahl, die macht erfahrungsarm. So schreiben sie. Kann sein. Ich würde gerne wieder mal in Urlaub fahren. Der ständige Druck in der Firma. Wieso hab ich angefangen, abends zu Hause die ­E-Mails von den Kollegen zu checken? Um die Schrecken des Tages vorwegzunehmen? Alles läuft immer schneller. Die schaffen das demnächst noch, eine Schwan­ gerschaft zu verkürzen auf nur neun Wochen. Wer die? Es zwingt einen doch keiner. Alle sind mit allen derart dicht verflochten, da kann man nicht aus der Reihe tanzen. Briefe von Hand, das braucht seine Zeit. Dabei schreibe ich eigentlich gerne mit einem richtigen Stift auf echtes Papier. Es kann eine nette Geste zur Tante sein. Oder es deutet auf Romantik hin. Und entweder passt Romantik, dann traut man selbst Schmetterlingen und Sternen, oder sie wirkt peinlich. Die handgeschriebenen Briefe vom Kieler. Am Telefon hat er geprahlt, was das für eine Mühe war. Falten, eintüten, frankieren, einstecken. Sonja schneidet den Artikel aus und legt ihn ins Buch von der entdeckten Langsamkeit. Sie blättert im letzten Kontoauszug. Dem Kindsvater fällt es nicht ein, auch nur einen Cent über den Pflichtsatz zu zahlen. An Moiras Geburtstag wird er was springen lassen, irgendeinen unbrauchbaren Unsinn, für den er in ihren Augen dann wieder der Größte ist. Oh mein Papa war eine wunderschöne Clown, oh mein Papa war eine große Kinstler. Oma hat es mir vorgesungen mit ihrer zitterigen Kopfstimme, die haben wir gerne nachgemacht. Selige Zeiten einer Großfamilie, in der Erinnerung 6


als Kind zumindest. Immerhin sehen Paul und Moira ihren ­Vater regelmäßig. Na bitte, da ist der Beleg für die Überweisung an Waschbär. Was müssen die Leute gleich mahnen? Früher habe ich gedacht, Kaufen nach Katalog ist was für Dörfler. Unsinn. Man kann bei Tageslicht sehen, ob einem die Farben stehen, ob sie zu den anderen Kleidern passen. Die Therapeutin hat neulich fast ein Lächeln zustandegebracht, als ich ihr sagte, wie ich beim Einkaufen spare, mich selbst überliste: Eigentlich sollten es zwei Oberteile werden, dann ist es bei einem geblieben. Zwanzig Euro gespart! Warum lachst du?, fragt Paul. Oh nein. Nicht wieder das. Weil ich an etwas Lustiges gedacht habe. An was? Ein Narr fragt mehr, als sieben Weise sagen können. Also gut. An das Gesicht von meiner Ärztin, wenn sie lacht. Kommt selten vor. Warum lacht sie nicht? Darum. Sie hört viele schwierige Geschichten. Er soll jetzt aufhören. Heute morgen waren wir im Stadtpark bei den Rutschen, und vorhin habe ich ihn verwöhnt mit kitzeligen Scheingefechten. Paul, wird das noch was mit deinem Bild? Er winkt beruhigend, nimmt einen roten Stift. Sonja hört die rhythmischen Schwünge auf dem Papier, dann versinkt sie in ihren Papieren. Er redet vor sich hin. Hier geht Papa zur Arbeit. Flugbegleiter, er kommt was rum. Da landet er auf der Alster zwischen den Segelbooten. Eins wird gesteuert von einer Tomate. Sie hat Stiefel an. Das sind aber eigentlich meine Schuhe. Sie geht bis zum Dom auf dem Heiliggeistfeld, um sich Mandeln und Würstchen zu kaufen. Das ist das Riesenrad. Und das die Geisterbahn. Ich tue ein paar Gespenster dazu. Die haben auch Schuhe und 7


keine rasselnden Ketten. Sie könnten meine Tomate in eine Mücke verwandeln, aber das lassen sie lieber. Papa winkt vom Riesenrad dem Fürsten, bis er in einer Woche wiederkommt. Wie viel Mal schlafen ist eine Woche? Die Tomate hat eine Nase und putzt sie. Denn die Nase läuft. Die Nase rennt! Man kann sie nur noch klein erkennen. Hier vorne vor dem Geisterschloss halten zwei Zähne Wache. Es ist ein ganzes Gebiss. Klappt auf und zu. Aber den Fürsten verschlingt es nicht. Das Bild ist etwas voll geworden, die Geschichte geht aber noch weiter. Da. Das ist der Fürst. Sein Bauchnabel ist im Gesicht. Deshalb hat er auch Bauchweh. Gestern haben die Ohren gebrannt, er hat geschrien. Die Tomate schreit auch. Neue Seite. Sturmflut. Matsch in allen Straßen und schwimmende Häuser so wie im Fernsehn. Da war ein Gewitter wie hier vorhin, oder es war der Tsunami. Zerdellerte Autos. Paul nimmt sein Glas und kippt es vorsichtig über das Blatt. Es tröpfelt dick, ein kleiner See entsteht. Er hebt den Zeichenblock leicht an und schafft ein braunes Rinnsal. Du fließt ins Meer, sagt er, und aufs Meer scheint die Sonne. Wasser wird Dunst und zur Wolke. Wenn sie schwer geworden ist, dann regnet sie sich aus. Paul! Was soll der verschüttete Kaba? Mama! Das gehört so! Sonja sagt, anscheinend. Wenn du fertig bist mit dem Zeichnen, wisch bitte drumrum alles trocken. Ich bin nicht fertig, sagt Paul, du fehlst noch.

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Der Spiegel Gemeinschaftspraxis Baumgarten und Stübben, Psychotherapie und Analyse. Mareike Baumgarten steht auf Zehen­ spitzen neben ihrem Schreibtisch vor dem kleinen ovalen Spiegel. Piet hat ihn ein bisschen zu hoch aufgehängt für eine wie sie, sie ist stolze einssechzig. Mit Pumps einsfünfundsechzig. Jetzt malt sie sich die Lippen nach, streicht ihre neue Bluse glatt. Ein grünes Sil­bergrau. Oder ein silbergraues Grün? Reine Viskose, ein Schnäppchen bei Waschbär. Das alternative Modell hat mit dem Bild im Katalog nicht übereingestimmt, ein billiges Rot, das hat sie der Firma zurückgeschickt. Heute nur noch eine Sitzung, Herr Drews hat abgesagt, er wäre stark erkältet. Wer’s glaubt, wird selig. Er hält sich für ein Alphatier und ist doch nur ein Pudding. Vielleicht hat die Intervention in der letzten Woche sein Ego gekränkt. Er feuert sein Eigenlob ab, klagt über den schlechten Teamgeist in seinem Betrieb. Die Zunge würde er sich abschneiden, wenn er sich selbst zuhören könnte. Wie soll man einen Pudding packen? Sie lüftet, sieht aus dem Fenster. Allmählich wird sie hungrig. Piet hat zum Abendessen Aal versprochen. Sie fährt vom Fenster zurück, unten geht schon die ­nächste Patientin. Die Preußin. Noch eine Viertelstunde Zeit! ­Sonja Becker wäre auch noch überpünktlich, wenn es darum ginge, sich mit Rinderwahn anzustecken. Sie behauptet zwar, schusselig zu sein, aber das wirkt nicht glaubhaft. Schon diese Körpersprache. Ein Pudding bewegt sich ganz anders. Warum trägt sie nur immer lasche T-Shirts. Mareike schließt das Fenster, wäscht sich im Bad die Hände. Sonja Becker hat neulich bekannt, sie habe nach dem vorletzten Termin die Toilette benutzen müssen, daher sei man sich nochmal im Flur begegnet. Die schämt sich für ein norma9


les Bedürfnis. Klassisches Beispiel, Regression bei Minderwertigkeitsgefühlen. Draußen geht Sonja noch einmal um den Block, was soll sie heute ansprechen. Kinder, Kieler, Kinder, Kieler, sie ­probiert, was besser klingt. Wer die Schulaufgaben nicht ­gemacht hat, meldet sich freiwillig. Dann gibt es einen Strich. Drei Striche sind ein Eintrag. Drei Einträge ergeben einen Brief an die Eltern. Sonja weiß, das ist ihr privater His­torien­ film. Drinnen, Mareikes Sprechzimmer. Immer wieder versucht sie, es mit den Augen der Patienten zu sehen. Helle Wände, zwei Farbdrucke von Miró. Am Boden ein grüner, wollener Teppich. Eine Couch für die Hardcore-Fälle, darauf der lila­blaue Überwurf, hinter dem Kopfende steht der Analytiker­thron. Schränke und Bücherregale. Neben dem Schreibtisch der Spiegel, dem sich die Patienten nie nähern. Zwei Sessel, dazwischen ein Tischchen, darauf eine Vase mit Blumen und Tempotüchern. Wie viele Seen von Tränen hier schon vergossen wurden, Mareike watet in Gedanken abends manchmal durch ein Salzmeer. Piet spöttelt immer über die Couch. Als er Mareike neulich abends endlich wieder einmal von der Arbeit abholte, lag er sofort darauf und machte Faxen. Wer bin ich, sagte er und fuchtelte. Bin ich ein Mann oder ein Hammel? Frau Doktor Baumgarten, zu Hilfe! Man hat mich ausgetauscht! Du Kindskopf. Danke deinem Schöpfer, dass ich dich nicht analysiere. Warum hast du dir eine Therapeutin ans Bein gebunden, wenn dir meine Arbeit verdächtig ist? Es klingelt, Mareike fährt auf. Sonja geht die zwölf Stufen zur Praxis hoch. Das Herzklopfen vor der Tür findet sie selbst übertrieben. Sie hängt ihre Jacke an die Garderobe, sieht im Flurspiegel ein starres Gesicht. In einer versteinerten Wiege liegen. Drinnen im Sprechzimmer: Mareike denkt Aal, denkt 10


Piet, sie reißt sich zusammen. Vor dem Spiegel schneidet sie eine Fratze. Was bist du? Tier? Pflanze? Ein Mineral? Sonja geht auf die Therapeutin zu, sieht zu ihr auf. O mein stiller Baumgarten. Hoch oben im Wipfel ein Lächeln, das unentzifferbar ist. Immer tut diese Patientin so, als wäre sie nur 90 Zentimeter groß, und nicht mit mir auf Augenhöhe. Dann sitzen beide Frauen in den Sesseln. Mareike hat die Hände hinterm Kopf verschränkt. Die neue Bluse spannt nicht in den Schultern, sitzt wunderbar, selbst Piet hat ihr ein Kompliment gemacht. Braucht die Patientin wieder mal die Einladung, zu reden? Mareike fragt, wie geht’s Ihnen? Der Preußin geht es soweit gut. Hier wird ihr immer leichter zumute. In diesem schönen Zimmer. Mareike wartet auf das Aber. Aber, sagt Sonja, so schön sieht es nicht überall aus. Mareike sagt ahem und wartet. Tun wir so, als wärest du ein Pudding, und ich bin alle übrigen, deine Mutter, dein Vater, dein Chef, deine Kinder. Wir rücken mit Messer und Gabel an. Es ist erstaunlich. ­Sonja Becker hat sich von ihrem Mann, einem notorischen Schürzenjäger getrennt. In ihrem Job ist sie schon sieben Jahre lang. Sie und der Ex halten freundschaftlichen Kontakt. Die beiden Kinder sehen ihren Vater regelmäßig, sie gehen gern zur Schule und zur Kita. Die Patientin ist keine von diesen überbehütenden Müttern. Sie stemmt ihr Leben, sie glaubt es nur nicht. Sonja redet von ihrer Unfähigkeit, die neue Software in der Firma zu installieren. Was auch kein anderer Kollege schaffte. Doch bei ihr denken alle, die ist dumm, die hat nicht mal Abitur. Mareike fragt, wer sagt Ihnen denn sowas auf den Kopf zu? Niemand. Die Preußin kann Blicke lesen. Greife ich jetzt schon ein, oder überlass ich ihr die ganze Unterhaltung. Sonja riecht, dass man sich in der Kita sorgt um ihren 11


Sohn. Gerade weil Paul so gern dort ist. Da hat er zu Hause wohl nicht viel zu lachen. Fehlende Mutterliebe, denken die Kitafrauen, das fühlt Sonja Becker. Hier oben in ihrem Kopf. Da ist die Quelle deiner Not. Sonja fragt sich, was sie sagen soll. Frau Doktor Baumgarten sieht aus, als wäre auch sie nicht zufrieden mit ihr. Du spitzes hohes altes Nadelholz. Übrigens hat sich der neue Bekannte bei mir zum Tee eingeladen. Der Kieler. Das hatte ich Ihnen neulich noch gar nicht erzählt. Mareike fragt sich, sind das Umwege. Diese Patientin tut oft so, als wäre sie Hausierer. Bietet Garnröllchen an oder Schnürsenkel. Als hätte ihre Therapeutin zu entscheiden, wer die Themen setzt. Ich bin nicht dein Vater. Sonja sagt, der Kieler hatte mich im Kino angesprochen, und dann rief er immer wieder an. Mareike nickt. Das hast du dreimal erwähnt und bist schnell weiter gesprungen. So ein spontanes Kennenlernen ist doch besser als bei Parship die Kontaktanzeigen? Partnerbörse, Stiftung Warentest, schon diese Wörter sind kaputt, oder nicht? Mareike setzt das Lächeln einer Sphinx auf. Was meinst du denn selbst? Was sind deine Alternativen? Sonja sagt, der Kieler schickte Salbeibonbons, als ich Husten hatte, mit einem handgeschriebenen Brief. Ihm läge an meiner Stimme! Mareike lächelt die Patientin direkt an. Da spring ich rein mit der positiven Verstärkung. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie verehrt werden? Sonjas Gesicht wird streng. Es war absehbar, die Preußin lässt sich darauf nicht ein. Sicherer sind die vertrauten negativen Gefühle. Sonja sagt, der Kieler hat nicht mich gemeint. Am Telefon hat er von japanischen Filmen erzählt, mit vorwurfsvollem Staunen, weil ich die nicht kenne. Die Stories sind zwar fade, aber man will keine Zicke sein. Fast jede Nacht hat er ange12


rufen. Wenn er mit den Filmen fertig war, fing er an, von meiner Stimme zu schwärmen. Die hat er aber kaum gehört, weil er doch dauernd redete. Eine Pause, dann zuckt sie die Schultern. Na ja. Wenn er so sülzte, war das nett. Waren Sie überrascht? Hat es etwas in Ihnen ausgelöst? Die Patientin versteht die Frage nicht. Undenkbar, dass sie überhaupt mal einen Flirt genießt. Dass sie sieht, ein Mann geht vor ihr auf die Knie und liegt da richtig. Sonja sagt, mir ging das alles etwas schnell. Man hat nicht jeden Tag einen Verehrer, und dann auch noch einen, der behauptet, Kinder zu mögen. Als er dann an einem Samstag kommen wollte, zur blauen Stunde, wusste ich nicht, wie lange die dauern würde. Ob ich ihn bei mir übernachten lassen wollte. Natürlich habe ich geputzt. Und meine Zehen frisch lackiert für alle Fälle. Ich habe übrigens auch eine ­Bluse aus reiner Viskose. Auch mit Silberschimmer, aber in Rot, die Farbe sieht aus wie ein Liebesapfel, sehr schön. Unsinn, denkt Mareike. Das war ein scheußliches Tomatenrot im Waschbär-Katalog, und eine wie dich macht die Farbe nur blass! Liebesapfel, sehr schön, sagt sie, und Sonja horcht dem Echo nach, verliert ihren Faden. Wo war ich? Bei den Zehen. Bei der Schönheit. Bei der Vorbereitung. Also: Moira gut aufgehoben auf dem Reiterhof, und Paul bei seinem Vater. Es ist fünf Uhr geworden, der Kieler ist nicht gekommen, es wurde halb sechs, so ein Penner. Vielleicht aber ein Unfall auf der Autobahn. Er kam mit satten eineinhalb Stunden Verspätung. Hatte kaum Zeit, um Tee zu trinken, wollte gleich weiter. Sonja zögert. So knuffig wie beim ersten Kennenlernen sah er eigentlich nicht aus. Bisschen zu dünn, bisschen zu klein, in etwa meine Länge. Einssechzig, das ist doch eine erbärmliche Größe. Das ist im Gegenteil eine sehr schöne Größe! Mareike hat es nicht nötig, so was zu sagen. Und weiter? 13


Dass er seit Jahren geschieden ist, hatte er längst erzählt. Was er verschwiegen hat: In Altona gabs eine Freundin. Die hat ihn unlängst rausgeworfen. Da hat er sich auf die Pirsch gemacht und mich im Kino angebaggert. An dem besagten Samstag hat die Freundin sich mit ihm versöhnt. Er sagte, er wolle keine Geheimnisse vor mir haben. Deshalb nur der verspätete Blitztee bei mir, bevor er zu ihr zurück in die ­Kissen sauste. Mareike freut sich in aller Vorsicht. Tonfall und Augenaufschlag ihrer Patientin sind wünschenswert spöttisch. Dann haben Sie sich das Theater nicht zu Herzen gehen lassen? Meine ältere Schwester hat Glück bei Männern, ich nie. Dabei lernt sie seltsame Typen kennen. Leute, die Motorrad fahren. Mareike lacht in sich rein. Piet würde jetzt fragen, was an Motorradfahrern seltsam wäre. Er schwärmt noch immer von seinen früheren Touren. Meine Schwester hatte sogar einmal einen Lover, der jedes Jahr Urlaub im Sauerland machte. Ein Freizeitangler. Mareike sagt, auch so einer muss kein Verbrecher sein. Eben! Meine Schwester kann sich einlassen auf Leute. Ich bin nur misstrauisch und engstirnig. Das geht aber doch nicht. Wie helfe ich Paul und Moira, fröhliche stolze Menschen zu werden? Sind Ihre Kinder das nicht jetzt schon?, fragt Mareike freundlich. Wieder weichst du auf die Nebenschiene aus. Sonja hält sich an Kleinigkeiten fest, springt von Thema zu Thema. Wortgeflügel, Mareike schweift ab, sie würde den nächsten Supervisionstermin gern vorverlegen. Sie zwingt sich zur Konzentration. Die Gewichtsprobleme, Sonja ist zwei unausstehliche Ki14


los zu dick. Sogar ihre Mutter hat gestern gemeint, sie sehe gut aus. Also waren Sie doch wieder bei ihr? Die Patientin sagt empört, Mutter ist eine alte Frau! Mareike stellt sich Preußens Mutter vor. Die sollte diesen Satz besser nicht hören. Sonja erklärt, man muss sich um seine Eltern kümmern, so lange man sie noch hat. Ah ja, Mareike nickt. Was bist du für eine gute Tochter. Sonja hört ah ja und sieht das damenhafte Nicken. Was war denn jetzt schon wieder falsch. Du kalte hohe Stech­palme. Na ja, sagt sie, Mutter wird leider hinterrücks immer so aggressiv. Vielleicht war es ein Kompliment, was sie Ihnen da machen wollte? Das war eine Kritik, Sonja ist sicher. Wenn Mutter gut aussehen sagt, dann meint sie, dass ich fett bin. Ich fühle mich doch selbst nicht wohl mit dem Gewicht. Mutter ist eine Altersschönheit, die hat überhaupt ihr Leben im Griff. Bei mir sieht sie auf einen Blick, was alles nicht in Ordnung ist. Ich hätte mich aufbrezeln sollen für sie, mit meiner neuen Viskose-Bluse. Hier, das olivgrüne T-Shirt nennt sie verwaschen. Sie hätte es mir am liebsten vom Leib gerissen und sich nebenher ver­ gewissert, ob ich tatsächlich einen unzüchtigen schwarzen BH trage. Moira sagt, der sehe aus wie eine Blindenbrille. Wie soll ich mich damit noch schön finden oder sogar verführerisch? Mareike stutzt. Sag bloß, du kennst das Wort. Du gibst mir noch Anlass, zu hoffen. Aber Sonja macht eilig weiter. Mutter hat es auch nicht lassen können, auf das Ekzem an meinem Unterarm zu schielen. Ob ich es behandeln lasse und überhaupt endlich auch wieder beim Gynäkologen war. So ganz von Frau zu Frau. Mareike sagt, viele Mütter können es auch bei erwachsenen Kindern nicht lassen, sie weiter zu lausen. Mischung aus 15


Pflege, Kontrolle und Zärtlichkeit. Sie nickt ihrer Patientin zu, eine sanfte Verschwörung. Sonja holt Luft. Sie hatte das Atmen ganz vergessen. O, mein stiller Baumgarten. In deinem Schatten gehe ich im Frieden. Ja, sagt sie, das stimmt. Eine entspannte kleine Pause, dann macht sie weiter: Ich versuche, anders mit den Kindern umzugehen. Man merkt doch, ob Moira angefasst werden will oder nicht. Paul war von Anfang an viel verschmuster als sie. Aber wenn Moira das nicht braucht, wenn sie sich jetzt vom Reiterhof aus nicht meldet, dann werde ich ihr kein Heimweh einreden. Paul will immer kuscheln, und wie oft sagt er, Mama, ich hab dich ganz doll lieb. Bist du bald fertig? Mein Kopf wird immer dick, wenn die Patientinnen zu viel von ihren Kindern reden. Kein Grund zur Eifersucht, im Gegenteil. Denn ein Hügel kann schließlich kein Tal sein. So wenig wie ein Kopf ein Bauch. Tweedledee und Tweedledum. Mareike sagt, verständlich. Was Ihre Kinder angeht, sind Sie mit sich im Reinen? Ich bin wohl doch keine Rabenmutter, Sonja wird rot. Was für eine Schwerstarbeit, sich selbst Halleluja zu sagen. Erst kommt die Strafe und dann das Urteil. Wieder setzt die Patientin ein strenges Gesicht auf. Es geht hier in der Stunde aber nicht um das, was gut läuft, sondern um das Nichtgelingen. Oh dear. Du hältst dich selbst zum Narren, drehst dir alles um in deinem armen Kopf. Wie kann ich dir helfen, ein realistisches Selbstbild zu kriegen. Adieu, preußisches Regiment. Darf ich vorstellen, Herzkönigin. …

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